Leben am Limit

 

 

Ich habe die Nase voll – so richtig voll!! Ich kann mir die Dinge einfach nicht mehr passend quatschen und schönreden, mir selbst etwas vormachen, auf irgendein Heil warten, hingehalten und eingelullt werden. Ich kann die Angst schürenden Nachrichten und Hiobsbotschaften nicht mehr hören. Ich habe die Einseitigkeit der Berichterstattung ebenso satt wie die Eintönigkeit meines Tagesablaufs. Ich habe keine Motivation mehr, mir die kleinen und feinen Dinge des Lebens immerzu schmackhaft zu machen und mich selbst bei Laune zu halten. Ich fühle mich leer, ausgelaugt, bin müde und mürbe wie ein alter Butterkeks.

 

Klar kannst du jetzt sagen, aber du hast doch alles und das, was du machst, ist Klagen auf hohem Niveau. Denk doch einfach an die Menschen, denen es viel schlechter geht als dir. Das kann ich tun und ihnen sogar helfen, wo es mir möglich ist, aber der Vergleich mit ihnen hilft weder mir noch irgendwem anders. Es ist, als würde ich mir einen rosa Schleier überhängen, um meinen eigenen Kummer nicht mehr zu sehen.

 

Ich fühle mich wie in einer Zwangsjacke, deren Bänder immer enger geschnürt werden und mir damit jegliche Lebensfreude aus meinen Poren gepresst wird. Ich bin sie leid, die ewigen Beschränkungen, Strafandrohungen, Maßregelungen, Anordnungen, die kontrollierenden und abschätzenden Blicke, ob ich denn auch brav bin und alles richtig mache.

 

Ich kann meine Wohnung nicht mehr sehen. Ich bin mein Wohnzimmer, mein Schlafzimmer und erst recht meine Küche leid! Ich mag auch nicht mehr kochen. Selbst wenn wir etwas bestellen und es selbst abholen - um die Monopolisierung der Lieferservice nicht zu unterstützen - mag ich es nicht mehr in der Küche essen und auch nicht vor dem Fernseher im Wohnzimmer und erst recht nicht im Bett. Ich will einfach mal raus, will als Mensch unter Menschen sitzen, will sie reden und lachen hören, mit dem Kellner plaudern, ein gezapftes Bier und einen Cappuccino trinken, den jemand anders für mich zubereitet hat. Ist das denn wirklich verwerflich?

 

Spazierengehen ist für mich in den letzten Monaten zu einem regelrechten Schimpfwort geworden. Es hat seinen Reiz verloren, sogar für jemanden, der die Natur liebt und sowieso täglich draußen ist. Viel lieber würde ich mit Freunden um einen Tisch sitzen, durcheinanderreden und plaudern, rumalbern und lachen.

 

Ich möchte von Herzen gerne davon berichten, dass ich einen tollen Film im Kino angeschaut oder Theater gespielt habe, Eislaufen war oder eine Wohnzimmerlesung gehalten habe. Ganz sicher möchte ich nicht mehr den unzähligen Paketdiensten dabei zusehen, wie sie die Pakete vom reichsten Mann der Welt in die Häuser schleppen und die Geschäfte vor Ort für immer die Türen schließen.

 

Ich will mich auch nicht mehr gedrückt fühlen. Ich will endlich wieder gedrückt werden! Und zwar jetzt, unbedingt und sofort. Dieses sterile nebeneinanderher macht mich krank, unleidlich und ärgerlich. Ich will wieder berühren und anfassen. Ich will mich nicht nur nah fühlen, ich will nah sein!

 

Ich will keine Menschen mehr mit FFP2-Masken sehen, die allein durch den Park gehen. Die Angst, die von ihnen ausgeht, bringt mich zum Verzweifeln. Ich würde mich schämen, wenn ich jemals nur einem einzigen Menschen in meinem Leben so viel Angst gemacht hätte, dass er glaubt, allein mitten in der Natur eine Maske tragen zu müssen.

 

Ich will mir auch nicht mehr pausenlos anhören „bleib gesund!“ Von mir aus darf ich auch mal krank sein, dann werde ich eben wieder gesund, genauso wie ich es all die Jahre zuvor getan habe. Ich finde Kranksein nämlich nicht schlimm, sondern zum Leben dazugehörig, hilfreich und mitunter sogar heilsam.

 

Ich brauche eine Perspektive, irgendetwas, worauf ich mich freuen kann, und das muss kein fantastischer Urlaub auf einem Umwelt verpestenden Kreuzfahrtschiff oder ein Flug nach Südafrika sein. Etwas gemeinsam zu erleben, Freude miteinander zu teilen, zu tanzen oder Schlitten zu fahren, reicht mir allemal aus.

 

Ich mag meiner Familie nicht mehr die Haare schneiden und mir selbst erst recht nicht. Das war anfangs ja ganz lustig, aber so langsam kann ich mir meine stümperhaften Frisierversuche nicht mehr mit ansehen. Mir wird übel davon.

 

Ich mag auch nicht mehr Zoomen und Skypen oder Video chatten. Ich will keine wackeligen Bilder mehr sehen oder verzerrte Stimmen hören. Ich will Menschen gegenüber sitzen, ihnen in die Augen schauen, sie als ganzen Menschen mit ihrer Mimik und Gestik erfassen dürfen, mich mitreißen lassen von ihrer Gegenwart und ihrer Präsenz. Ich möchte mich wohl oder auch unwohl in ihrer Nähe fühlen - Hauptsache, ich darf ganz real wieder mit ihnen zusammen sein.

 

Ich möchte, dass Kinder und Jugendliche endlich wieder an Orten lernen, die dafür bestimmt sind und dass sie das, was sie lernen müssen, von Menschen gelehrt bekommen, die das studiert haben und sich damit auskennen. Ich bin keine Pädagogin, kein Mathegenie und auch kein Englischcrack. Ich bin eine ganz normale Mutter und schlichtweg überfordert mit Aufgaben, die meine Fähigkeiten übersteigen und mein Nervengerüst überspannen.

 

Bei all dem moralisieren, be- und abwerten, scheint es mir immer schwieriger, die eigenen Befindlichkeiten öffentlich zu äußern. Man darf sich einfach nicht mehr anders fühlen, als es die breite Masse erlaubt, ohne stigmatisiert zu werden. Doch es gibt auch durchaus positive Dinge zu benennen. So freue ich mich beispielsweise sehr darüber, dass die Terminfindung mit meinen Freundinnen unkompliziert und jederzeit möglich ist. Der Austausch mit ihnen sind die Anker in meinem Leben, die mir derzeit Halt geben, selbst dann, wenn wir uns eigentlich kaum etwas zu erzählen haben und ob wir wollen oder nicht, immer wieder beim alles dominierenden Thema landen. Doch zumindest können wir dann unseren Unmut und unsere Verzweiflung miteinander teilen.

 

Glaubt bitte nicht, dass ich mein altes Leben zurückhaben möchte, das möchte ich absolut nicht. Ich möchte nicht, dass das Rad sich an der Stelle weiterdreht, an der es vor einem Jahr angehalten wurde. Ein Reset und Umdenken der Profit-, Konsum- und Spaßgesellschaft ist gut und richtig und mehr als überfällig. Ich würde mir wünschen, dass wir alle etwas gelernt haben und es in unsere zukünftige Lebensgestaltung integrieren würden. Aber ich frage mich auch, wie eine wirklich nachhaltige Veränderung möglich sein soll, bei einer Gesellschaft, die unter einer Käseglocke gehalten wird. Wirkliche Veränderung lassen sich nur mit lebendigen, kreativen, wachen und motivierten Menschen auf den Weg bringen und nicht mit solchen, denen gehirnwäschemäßig immer wieder Angst und Hoffnungslosigkeit eingetrichtert wird, die demoralisiert und isoliert werden. Das hinterlässt Spuren in jedem von uns.

 

Wenn ich einen Wunsch frei hätte, so würde ich mir wünschen, endlich wieder ein lebendiger Mensch unter lebendigen Menschen sein zu dürfen. Ein Mensch, der sein Menschsein verantwortungsbewusst leben und gestalten darf. Aber selbst das Wünschen scheint mir derzeit nicht gewünscht.

 

Wenn ihr mögt, dürft ihr den Beitrag gerne teilen, aber verschont mich bitte mit Kommentaren, dass ich nur herumjammere und keine Vorschläge zur Veränderung mache. Die gibt es, und zwar zahlreiche davon und auch von Menschen, die mehr Ahnung haben als ich – sie müssten nur gehört und umgesetzt werden, damit sich das Blatt endlich wenden darf.

 

Auf Abstand